Matthäus Bär

Corona Diary – Geschichten aus der Isolation (gesammelt)

Die familiären Bestandsaufnahmen entstanden im ersten Lockdown zwischen 15. März und 12. Mai 2020 und wurden täglich auf Instagram und Facebook veröffentlicht.

 


Tag 3
Die Kinder wollen sich einfach nicht an die präventiven Maßnahmen halten. Ständig hängen sie in unserer unmittelbarer Nähe ab und scheuen auch vor Körperkontakt mit uns Eltern nicht zurück. Von Social Distancing keine Spur! Wie sollen wir da in Ruhe unseren Netflix-Verpflichtungen nachkommen? Auch Homeschooling ist nicht mehr das, was es früher war. Schon nach 10 Minuten wollten sie nicht mehr Schule spielen und wir mussten uns schon wieder um sie kümmern. Die ständige Nähe zu den Nächsten geht mir mit Abstand näher als der Abstand zu all den anderen Menschen. Wie soll das nur weitergehen?

 

Tag 4
Heute war okay. Konnte meinen Beitrag als Systemerhalter leisten, in dem ich Stadtlandschaften (nachhaltiger Holzbau!) erschaffen, bedrohten Tierarten Unterschlupf gebaut und eine Eisenbahnlinie quer durchs Wohnzimmer verlegt habe. Auch die Badezimmerlampe, die seit 12 Jahren ihr Dasein als Draht mit Glühbirne fristet, wurde heute erlöst und mit einem Schirm ausgestattet. Heimwerken statt Heimarbeit quasi. Die wahren Profiteur*innen dieser Krise werden rückblickend die Wohnungen sein. Beim wahnsinnsvorbeugenden Waldspaziergang dann vier Bekannte getroffen und trotz Sicherheitsabstand (Social Distance = eine Astlänge) mehr erfahren, als mir lieb war. Jetzt noch einen schnellen Quarantini und ich kann mich entspannt von den vorüberziehenden Panikattacken in den Schlaf wiegen lassen.

 

Tag 5
Langsam macht sich der Wahnsinn bemerkbar. Das kleine Kind hat heut vehement verlangt, etwa neun Monate zu früh, Geburtstag zu feiern (“Eh nur im Spiel”). Trotz eingepackten, re-used Geschenken und Happy Birthday gab’s dann noch einen major breakdown, weil ich das schöne Paprikastück gegessen hab, das so hübsch nach einem Schraubenzieher ausgesehen hat. WTF! Zwischen den 8 Runden “Kampf um Hogwarts”, in denen uns Lucius Malfoy immer wieder extrem nervig dazwischen gefunkt hat, dann noch alte Bär-Lieder entdeckt, von denen ich ganz vergessen hatte, das es sie gibt. Werde in den kommenden Tagen versuchen, sie nachzuspielen. Vielleicht lässt sich aus der Situation ja doch noch was Gutes herauslocken.

 

Tag 6
Alles okay, der Wahnsinn wird mittlerweile als sinngebende Konstante akzeptiert. Habe heute mit dem kleinen Kind darüber diskutiert, ob ich eigentlich auch ihr Freund bin, so im Sinne von guter Elter-Kind-Beziehung. Sie hat das vehement verneint, weil ich ja schon ihr Vater bin und sich das gegenseitig ausschießt. Fair Point. Am Abend wurde mir dann doch noch angeboten, ihr “alter Kumpel” zu sein. Immerhin.

 

Tag 7
Leider kommen die Kinder noch immer zu spät ins Homeschooling. Auch von Arbeitsmoral und Disziplin keine Spur. Selbst der Versuch einzuführen, dass die Schulpflichtigen sich erheben, wenn der Lehrkörper den Raum betritt, ist gescheitert. Sie haben mich nicht einmal ignoriert. Na ja, immerhin sind sie nicht obrigkeitshörig.

 

Tag 8
Endlich ein Wochenende daheim. Versuchen vergeblich, Struktur in unseren Tag zu bekommen. Wann wer arbeitet, sich um den Haushalt kümmert oder Kinderpflege betreibt. Sisyphos verblasst dagegen. Hab’ die Schulpflichtigen gebeten, uns einen Stundenplan zu machen. Leider befolgen sie die Anweisungen des Lehrpersonals noch immer nicht. Mit der Nichtschulpflichtigen heute Waisenkind gespielt, weil sie wollte “immer schon keine Eltern mehr haben”. Okay.

 

Tag 9
Fiebern dem Ende der Isolation entgegen. Ohne Temperatur versteht sich. Trotzdem geht es zwischendurch heiß her. Haben heut den Kinder angeboten, verkehrte Welt zu spielen. Sie sind die Erwachsenen und können aufbleiben und in Handys, Tablets und Computer starrten so lang sie wollen. Dafür kümmern sie sich auch um Haushalt, Essen und dass wir ordentlich angezogen sind. Hatten gehofft, dass diese Fülle an Verantwortung und Aufgaben sie abschrecken. Stattdessen haben sie freudig erregt gerufen: “Ja, wir sind die Eltern, wir trinken Kaffee und Bier so viel wir wollen!” Sind jetzt ein wenig verstört, ob des Bildes, das wir offenbar vermitteln.

 

Tag 10
Die Isolation hinterlässt erste Spuren: Mein Telefon ist ins Klo gefallen (keine Angst, noch war außer Wasser nichts drin, falls das irgendjemands größte Sorge sein sollte.) Jedenfalls funktioniert der Home-Button jetzt nicht mehr. Auch irgendwie paradox, in Zeiten von Home-Schooling, Home-Office und Home-Work keinen Home-Button mehr zu haben. Die Kinder haben inzwischen Boney M. für sich entdeckt. Jetzt schallt es permanent “He’s crazy like a fool, Daddy, Daddy Cool” durch die Wohnung. Kann mich mittlerweile ganz gut damit identifizieren.

 

Tag 11
Eine große Herausforderung ist nach wie vor das Hosenmanagement. Kann mir vorstellen, die Problematik kennen viele. Möchte ja ein gutes Vorbild sein und den Kindern ein gewisses Maß an Eloquenz vermitteln. Verstehe auch, dass Lehrpersonal im Schlafanzug nicht unbedingt Respekt und Ehrfurcht heraufbeschwört. Habe mich deshalb für die 3-Hosen-Variante entschieden: Pyjama/Schlafhose, dann bequeme Hose für Internet-Yoga, dann Lieblings-Jeans für tagsüber, abends dann die Vorlese-Hose (=die Yoga-Hose*). Bin froh, so Struktur und fixe Ankerpunkte in unseren Alltag zu bringen.
[*Okay, gebe zu, es sind klassische Jogger]

 

Tag 12
Irgendwie fühlt sich das alles nach nie enden wollenden Wochenenden an: Den ganzen Tag die Kinder bei Laune halten, damit sie sich nicht gegenseitig massakrieren, sie dann mühsam mit der Versprechung auf längere Medienzeit zu einem kurzen Waldspaziergang überreden, und zwischendurch eingeschobenes Home-Office und Haushaltsbewältigung. Täglich grüßt das Sonntagsmonster. Besonders schön wird es, wenn das kleine Kind den ohnehin schon schief schauenden Passant*innen zuruft: “Waaarrrrg, ich habe den Corona-Schleim.” Well played, muss ich da sagen. Oder um passenderweise Susan Sonntag zu zitieren: “Sanity is a cozy lie”.

 

Tag 13
Verstehe jetzt endlich die Formulierung “der ganz normale Wahnsinn” in allen tiefenpsychologischen Bedeutungsschichten. Auch die semantischen Feinheiten des Konjunktivs wurden heut ausgelotet:
“Wollen wir was spielen?”
“Wir haben grad 1 1/2 Stunden Hund gespielt.”
“Wir könnten aber jetzt spielen, wir haben heut noch nichts gespielt, und wollten jetzt Schule spielen.”
“Okay, sagen wir halt, wir haben heut noch nichts gespielt.”
“Aber, Papa, wir haben doch grad was gespielt. Du warst der Hund.”
Touché.

 

Tag 14
Habe heute eine Stunde gebraucht, um einen einseitigen Artikel zu lesen, was allerdings weniger an meinen mäßigen Lesefertigkeiten gelegen ist, als an den halbminütlichen Unterbrechungen: Wortartbestimmungen, Mathematikübungen, Höhlenbauen oder Ankleidungshilfe bei unwilligen Angehörigen gehen eben vor. Als ich mich dann bei meiner erwachsenen Mitgefangenen darüber beschwert hab, ist mir schlagartig die Nichtigkeit meines Problems bewusst geworden. Sie versucht seit Anfang der Woche den Beitrag zu Ende zu lesen. Jede Realität ist eben relativ.

 

Tag 15
Heut haben wir uns bemüht, das Gute an der Situation zu sehen. Wegen Positivity, Kraft der Gedanken, Einstellung et cetera. Nacheinander sollte jede/r von uns den Satz “Dank Corona,…” vollenden. Bis auf zwei entfallene Schularbeiten und die “ätzende Märchenwoche” haben wir nur festgestellt, dass Corona uns wahrscheinlich vorm nächsten Burnout gerettet hat. Dafür haben wir jetzt andere existenzielle Sorgen und lernen jeden Tag “neue Eigenschaften an unseren Liebsten kennen”. Heilige Corona, warum nur haben alle dabei mich so komisch angeschaut?

 

Tag 16
Heut ist nicht viel passiert. Außer dass wir beschlossen haben, in den Wald zu ziehen. Wenn wir ab jetzt beim täglichen Ausflug jedes Mal ein Stück an unserer Steckenhütte weiterbauen, haben wir zum Ende dieser Krise ein hübsches Chalet im Wienerwald. Auch okay.

 

Tag 17
Rückblickend wird der Durchschnittswert während der Isolationszeit bei mindestens einem Wutanfall pro Tag pro Familienmitglied liegen. Wenn wir dann alle wieder raus gehen und die Tage unabhängig von einander verbringen werden können, sprechen wir dann wahrscheinlich von diesem Faktor als Maß der Dinge. In etwa so:
“Kannst du dich erinnern, als wir noch bei über 2 RA/D (=rage attack / per day) waren? Das war arg.”
“Ja, das waren die schlimmen Wochen. Zum Glück sind wir jetzt auf 0,5 RA/D herunten.”

 

Tag 18
Bis jetzt war es ja noch okay. Dann hat das Kind von sich aus zu Bürste und Schwamm gegriffen und gemeint, es wäscht jetzt ab, weil es ab ab sofort mehr im Haushalt mithelfen will. Bin schwer verunsichert. Irgendwas ist offenbar wirklich ganz und gar nicht in Ordnung.

 

Tag 19
Nachdem wir heut im Wald an unserem Chalet weitergebaut haben (1. Obergeschoß ist bald fertig {Anm.: “1. Stock” wäre hier eine zu verwirrende Angabe }), wurden wir von einer Dame angeschrien, weil wir ihr beim Vorbeigehen zu nah waren. Okay, wir sind vielleicht nicht 10m, sonder eh nur 5m ins Gebüsch ausgewichen. “Haltet gefälligst Abstand! Nur wegen euch werden wir alle eingesperrt!”, hat sie gebrüllt. Nach dem Ausflug hatte der Begriff Trampelpfad für mich plötzlich eine völlig neue Bedeutung.

 

Tag 20
Ein sehr schönes Ritual ist unser wöchentlicher Discoabend. So werden Panik- und Beklemmungsgefühle durch wildes Tanzen und Herumgehüpfe aufgelöst. Gleichzeitig gibt uns das wiederkehrende Ereignis Struktur im Alltag und wir können auch noch neue Dancemoves ausprobieren. Das ist immer sehr befreiend….bis die Kinder-DJs dann nach Abba, Boney M. und Dschingis Khan in die Aprés-Ski-Abteilung wechseln. Das erinnert uns dann wieder an die Beklemmung.

 

Tag 21
Das Chalet wird inzwischen immer komfortabler. Heut haben wir die Bettstätten im Zwischengeschoß eingerichtet. Trotzdem bleibt jeden Tag die Angst, dass schon jemand anderes unsere Waldheimat besetzt hat. Die Kinder haben gemeint, sie hätten zur Not eh Taschenmesser dabei. Auf meinen Einwand, dass Gewalt keine Lösung ist, haben sie vorgeschlagen, sie fangen stattdessen laut zu husten an. Dann flüchten sicher alle Eindringlinge sofort.

 

Tag 22
Okay, das mit dem Chalet läuft langsam aus dem Ruder. Nach Fertigstellung des Wintergartens heute, haben sich die Kinder nichts sehnlicher gewünscht, als wirklich einmal dort zu übernachten. Es ist auch total wünschenswert, wenn sie einmal nicht streiten und ein gemeinsames Ziel verfolgen, aber……ICH WILL NICHT IM WALD IN EINER STECKENHÜTTE SCHLAFEN! HILFE!

 

Tag 23
Haben heute Siedler von Catan gespielt. Ich hab leider nicht gewonnen.

 

Tag 24
Habe mir heut selbst ein (Oster-)Ei gelegt, indem ich vorgeschlagen hab, in der kommenden Woche innerfamilliär nach dem perfekten Dinner zu suchen. Alle waren sofort begeistert. Jeden Tag kümmert sich nun ein anderes Familienmitglied um das Abendessen und wird anschließend bewertet. Und jetzt geben mir alle schon Tipps, damit ich nicht Letzter werde. Bin jetzt kein Haubenkoch, aber dass es so schlimm ist und sogar die Kinder sicher sind, dass sie mich besiegen, hätt ich auch nicht gedacht.

 

Tag 25
Jetzt gilt es, die Taktik für das Dinner festzulegen. Soll ich, wie von meinen “Lieben” vorgeschlagen, das Essen einfach bestellen und alles auf die Deko und das Hosting setzen? Oder ist das nur eine Falle, um mir dann erst recht Punkte abzuziehen? Offenbar hat wirklich niemand Vertrauen in meine Kochkünste. Ich auch nicht.

 

Tag 26
Als wir heut überlegt haben, welches Familienmitglied welchem Charakter aus dem Harry-Potter-Universum entspräche, war sehr schnell klar, dass ich anscheinend Argus Filch bin. Jetzt weiß ich nicht, ob ich traurig sein soll, weil ich als einziger keine Magie in mir habe, oder weil ich ein autoritärer, verzweifelter und von allen belächelter Hausmeister sein soll. Immerhin hab ich eine Katze.

 

Tag 27
Die Kinder haben vorgelegt, mit durchaus gelungenen Dinners. Mehrere Gänge, aufmerksame Bewirtung und detaillierte Deko. Habe mich jetzt dazu entschlossen, morgen alles auf eine Karte zu setzen. Entweder wird es ein triumphales Abendessen, oder einfach nur peinlich. Sehr peinlich.

 

Tag 28
Also, wenn das keine Höchstpunkte gibt, ist das Ganze eindeutig geschoben. Habe einen astreinen Wiener Würstelstand präsentiert. Diverse Wurstvariationen, wahlweise gekocht oder gebraten, eingelegtes Gemüse, originales Pappendeckelschnittbrot, frischer Gurkensalat und selbstgemachte Pommes. Das ganze Programm. Hotdog, Senf süß, Senf scharf, weiße Schürze und Papiertazerl. Sogar mit Peter Alexander und Wien Flaggen. In aller Bescheidenheit, für mich ist das das perfekte Dinner.

 

Tag 29
Eine geheime Leidenschaft von mir ist, Playmobil-Figuren mit nicht ursprünglich zugehörigen Playmobil-Accessoires auszustatten. Heute hab ich zum Beispiel eine Ingeneurin/Planzeichnerin geschaffen, die mit einer Heckenschere ein Dürer-Selbstbildnis auf der Staffelei gemalt hat. In der anderen Hand hielt sie eine Tüte Maroni. Soweit ist es schon gekommen, dass das mein Tageshighlight war.

 

Tag 30
Dreißig. Ohne Worte. Immerhin haben heut zwei Damen im Wald unser Chalet fotografiert, weil sie die Bautechnik so bewundert haben. Wollte den Kindern einreden, dass das zwei berühmte Architekturkritikerinnen waren. Sie haben mich kurz mitleidig angeschaut und dann weiter in ihrer Geheimsprache geflüstert, die nur sie verstehen. Was munkeln sie da nur immer?

 

Tag 31
Waren heut auf der Insel. Haben am Wasser gesessen, den Regenbogen bestaunt, flauschig niedliche Entenküken bewundert, und einem majestätischen Schwan beim Koten zugeschaut. Dann sind wir entspannt der mit Blaulicht herannahenden Polizei davon spaziert. Trotz allem, je länger die Isolation dauert, desto mehr verliebe ich mich neu in diese Stadt. Und sowieso: „Insel muss Insel bleiben!“

 

Tag 32
Die ganze Familie entwickelt langsam eine Liebe zu 70ies-Disco. Finde, es gibt Schlimmeres. Und es befreit ungemein. Hoffe nur, die Nachbar*innen verstehen das nicht falsch, wenn wir in Zeiten wie diesen alle zu „Staying Alive“ und „I Will Survive“ durch die Wohnung springen. Falls sie sich überhaupt noch wundern sollten.

 

Tag 33
Morgen findet das letzte Dinner statt, in 24 Stunden wissen wir also, ob hier ehrlich oder mit gezinkten Löffeln gekocht wurde. Apropos ehrlich, das kleine Kind hat sich heut beim Einschlafen plötzlich umgedreht und gesagt: „Du bist mein Vater!“ Als ob das zu diskutieren gewesen wäre. Alles sehr seltsam.

 

Tag 34
Zweiter Platz! Ex aequo. Bin absolut zufrieden. Konnte vollends mit der sozialen Komponente des Würstelstands punkten. Auch niederschwellige Speisen können also für Furore sorgen, wenn sie mit Herz zubereitet sind. Und abgesehen von den Sieg- und Verlierertränen ist unser Speiseplan in der letzten Woche um einige Varianten reicher geworden. Ist auch was.
Hier noch die besten Zitate der Woche:
„Danke für die nette Einladung.“
„Fühlt euch ganz wie zuhause.“
„Mein guter Freund Ottolenghi hat gesagt….“
„Das Essen war gut, nur das Fleisch hat mich im Hals gewürgt.“

 

Tag 35

So viel körperliche Betätigung und Work-Out wie jetzt in der Isolation wurde nie zuvor betrieben. Auch ich beherrschte jetzt die ganze Vorbeuge ohne Probleme. Mitunter grassieren da ja fantasievolle Varianten von fitnessgenerierenden Beschäftigungen. Aber besonders gut gefallen hat mir heut der nette Herr im Park, der immer wieder den kleinen Hügel raufmarschiert ist. Rückwärts, Zehen nach unten. Schätze, das heißt wohl „Reverse-Hiking“, oder „Back-Climb“, oder „Fersensteigen“. Überlege, auch damit anzufangen. Er hat sehr fit ausgesehen.

 

Tag 36
Heut ist nicht viel passiert. Außer dass dem kleinen Kind das Frühstücksei sehr zugesprochen hat. „Es ist so gut, ich schmier es mir gleich unter die Achseln!“, hat sie gemeint. Wünschte, auch die Großen würden manchmal ähnlich enthusiastische Vergleiche ziehen. Alles wär gleich viel….äh, schmieriger.

 

Tag 37
Puh, fast auf‘s Tagebuch vergessen……ähm, heut ist nichts passiert!

 

Tag 38
Haben ein schönes Memory mit Bauwerken und Gebäuden aus Wien. Abwechselnd haben wir heut Karten daraus gezogen, um quasi kartenlegend festzustellen, was die Zukunft bringt und wo wir eines Tages wohnen werden. Die andern hatten Haas-Haus, Millenium-Tower und Schönbrunn. Ich hab zweimal den Narrenturm gezogen. Jetzt weiß ich wenigstens wo die Reise hingeht.

 

Tag 39
Okay, ich hab es selbst angezettelt. Hätte einfach nicht fragen sollen. Im heutigen Film sind die Eltern des Protagonistenkindes gestorben und unser Kind (das kleinere) hat darauf bestanden, dass die Mutter (die im Film) nur „uhnmächtig“ ist. Auf meine Nachfrage, ob sie wegen dem anderen verstorbenen Elternteil (im Film) nicht auch besorgt ist, hat sie dann gelacht. „Das ist ja nur der Papa, wegen dem ist niemand traurig.“ Aha!
Tag 40
Ohne Worte.
Tag 41

Eigentlich war der Plan perfekt. Wir haben extra auch für’s Kinderzimmer eine große Doppelmatratze besorgt, damit wir, wenn die Kinder bei uns im Bett einschlafen wollen, einfach sagen können: “Kein Problem, legt euch ruhig in unser Schlafzimmer, wir kommen dann später nach.” In Wahrheit aber hatten wir vor, gemütlich im großen Kinderzimmerbett ohne Füße im Gesicht durchzuschlafen. Jetzt ist es so, dass wir zwar zu zweit im “Kinderbett” einschlafen, spätestens zwei Stunden später kommt aber jemand aus dem Schlafzimmer angetapst, worauf mindestens eine/r von uns Erwachsenen wieder dorthin zurück auswandert. Meistens ist dann aber der/die Lieblingskuschler/in nicht im richtigen Bett und ein Kind wandert wieder retour vom Kinderzimmer ins Elternzimmer und dann ist erst wieder alles durcheinander und zu eng. Na ja, zumindest erhöhen wir so unsere durch die Isolation geschrumpfte tägliche Schrittzahl.

 

Tag 42

Angesichts der Gesamtsituation haben wir uns heute mit den großen Themen Vergänglichkeit und Tod beschäftigt. Wir haben Begräbniserfahrungen ausgetauscht und besprochen, wie es sein könnte, wenn wir alle einmal nicht mehr sind. Da hat dann das kleine Kind verkündet: „Wenn ihr einmal gestorben seid, ess ich euer Fleisch, damit niemand eure Körper stören kann.“ Was für ein beruhigender Gedanke!

 

Tag 43

Habe heute der größten meiner jüngeren Geschwister versprochen, sie an dieser Stelle zu erwähnen. Dieses Versprechen wird nun hiermit eingelöst. Sie ist sehr klug, sehr schön und möchte Medizin studieren. Vor gut 17 Jahren hab ich ihr noch das Gehen beigebracht und heute hat sie schon viel mehr Instagram-Follower als ich. Ich glaube sogar, sie ist cooler. You rock, Klara!

 

Tag 44
Als ich heute mit dem kleinen Kind durch den Wald gestreift bin (haben gerade „Gelbbären“ gejagt, um ihnen „das Fell durch zu schleudern“), haben wir wieder über Freundschaft und Verwandschaftsverhältnisse gesprochen. Habe jetzt die Befugnis, „immer ein Freund zu sein, OBWOHL ich zur Familie gehöre.“ Finde, das Kind hat alles verstanden.

 

Tag 45
Neben allen Herausforderungen des Tages mit Homeschool, Haushalt und (Beziehungs-)Arbeit kämpfe ich auch mit meiner Abendlektüre. Muss ehrlicherweise gestehen, dass ich zu Beginn der Krise begonnen habe, meine kleine Karl-May-Sammlung wieder zu lesen. Puh. Bin ja ein Fan von Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, aber das Deutschtum, die Überheblichkeit und latente die Missionierung ist auf Dauer kaum auszuhalten. Jetzt möcht ich’s aber schon noch zu Ende bringen, nur warum muss diese Erzählung auch sechs ganze Bände haben? Oh, Sihdi!

 

Tag 46
„Ich esse Bratwurst und Sauerkraut nur freitags….Papa, ist heut Freitag?“ „Nein, heut ist Dienstag.“ „Oh, bitte kann heut Freitag sein? Der Hotzenplotz isst auch immer am Freitag Bratwurst und ich hab mir Bratwürste gewünscht, also sollte heute Freitag sein.“ „Aber die Bratwürste haben wir doch für morgen gekauft.“ „Ok, dann wär besser, heut ist schon morgen.“

 

Tag 47
Apropos Literatur, freue mich immer ein klein wenig, wenn meine Autokorrektur das ominöse „Covid“ unverblümt in „Ovid“ verwandelt. So wird etwas Unangenehmes ganz schnell zu etwas Schönem. Die Metamorphose des Covids quasi.

 

Tag 48
Heut hat das kleine Kind beschlossen, “Sommer” zu spielen. Deshalb war sie auch bis ungefähr 16 Uhr vollkommen nackt, denn im Sommer ist es ja bekanntlich heiß. Zwischendurch haben wir dann gespielt, dass wir grad spielende Kinder sind. Sie hat dabei eine Person verkörpert (also, im Spiel des Spiels), die zufällig ein Kleid trägt, auf dem ein nackter Körper gemalt ist. Deshalb seh ich auch kein Gewand an ihr, so die Erklärung. Ich bin mir jetzt sicher, dass so Parallelwelten wie Peter Pans Nimmerland und dessen verwilderte Kinder auch während eines Lock-Downs erfunden worden sind. Ganz sicher.

 

Tag 49

Wenn ein SMS um 22:10 sinnbildlich für Arbeits-, Wohn-, Lebens- und Beziehungssituation steht: “Fast alles erledigt. Schreibe noch den Elternbrief für die Kindergruppe fertig….dann kriech ich zu dir ins Wohnzimmer und würde mich über Küsse und Alkohol freuen. Auch eins von beidem wär okay.”

 

Tag 50

Als in Wien lebender Mensch ist es mir nicht unbekannt, im Lauf der ersten warmen Tage des Jahres vermehrt illustre Gestalten und mehr oder weniger entrückte Personen auf den Straßen zu sehen. Normales Frühlingserwachen in der Großstadt. Jetzt, nach 50 Tagen Isolation wundert mich gar nichts mehr, es gibt einfach mehr als eine Wirklichkeit. Zugegeben, nur mit Gummihandschuhen bekleidet leg ich mich noch nicht zum Sonnen in den Park, so wie der nette Herr heute. Aber immerhin, Sicherheit geht vor!

 

Tag 51
Spricht es für oder gegen alles, was du vorlebst, wenn dein Kind während des gemeinsamen Spiels sagt: „Oh Gott, hilf mir! Aber nur mir!“

 

Tag 52
Ein wirklich nicht angenehmer Zustand ist, wenn man/frau beim Kinderinsbettbringen selbst einschläft und dann knappe 40 Minuten später wieder aufwacht. Kopf und Körper sind vollkommen verwirrt und wissen nicht, in welcher Welt sie sich befinden, halb schlafend, halb wach, weder noch. Manche nennen es „Elternkrankheit“, andere „Zombiemodus“, aber auch „Isolation“ beschreibt es wohl ganz gut.

 

Tag 53

Bemühe mich natürlich, stets das Positive an der Sache zu sehen. Heut hab ich zum Beispiel dank Homeschooling die schriftliche Multiplikation (wieder) gelernt. Mit Übertrag!
Tag 54
Brauche dringend neue Schuhe und bin zu einem extra kleinen Geschäft gegangen. Unterstützung der Kleinbetriebe und so. Dann waren grad zu viele Menschen im Geschäft und ich musste draußen warten. Bin kurz mit Maske vor der Tür gestanden und dann schnell wieder heim gelaufen. Dieser intensive Kontakt zu Mitmenschen überfordert mich einfach. Nur, war das vorher anders?

 

Tag 55

Im Hof, unter der Dachrinnen hat sich ein Taubenpaar eingenistet. Wirklich anmutige Tiere, feingliedrig, strahlend helles Gefieder, schmucke Köpfchen. Gott Google hat sie als “Türkentaube” identifiziert. In seliger Zweisamkeit haben sie mühsam ein Nest gebaut, Ast für Ast. Trotz aller Schönheit und Aufgeschlossenheit war uns allerdings ein Taubennest direkt vorm Fenster jetzt auch wieder nicht so recht. Stundenlang haben wir überlegt, wie wir die neuen Nachbarn, ohne garstig zu sein, dazu überreden könnten, sich vielleicht doch wo anders anzusiedeln. Und dann sind einfach zwei gewöhnliche Wiener Grindstauben gekommen und haben die Einwanderer flügelschlagend vertrieben. Wie zwei präpotente Badewaschl sind die Wiener dann im verlassenen Nest herumstolziert. Jetzt ist es leer. Auch im Tierreich kehrt also der Normalzustand zurück. Und der Alltagsrassismus.

 

Tag 56

Anscheinend hat die Isolation doch länger gedauert als gedacht, denn offenbar ist schon Dezember. Den Menschenmassen auf der Mariahilferstraße nach zu urteilen ist nämlich schon Advent.

 

Tag 57

Jedes Jahr um diese Zeit fürchte ich, dass meine Mutter die Gutscheine, die ich ihr 1996 als Volksschüler zum Muttertag geschenkt hab, endlich einlöst und ich jetzt 30x Blumen gießen, 20x Geschirrspüler ausräumen und 10x staubsaugen muss. Bin mir sicher, diese Angst kennen viele.

 

Tag 58

Habe meine Mutter mit einer Flasche Schnaps beschenkt, in der Hoffnung, sie löst die offenen Gutscheine nicht sofort ein. Sie hat sich sehr gefreut und mir als Dank die besagten Gutscheine übertragen. Jetzt zittern meine eigenen Kinder. Fair deal, würde ich sagen.

 

Tag 59

Habe mich heute wieder ins Schuhgeschäft getraut. War so aufgeregt, dass ich mir gleich ein paar obsolete Dinge aufschwatzen hab lassen. Alles wie üblich also.

 

Tag 60

SECHZIG! Eigentlich passiert nicht mehr viel, außer dass die Stunden bis zum Schul- und Kindergartenwiederbeginn gezählt werden.

 

Tag 61

Konnte heute endlich meine Buchhaltung für 2019 erledigen. Hab dabei fast wehmütig jede kleine Kaffeerechnung gestreichelt, in dem Bewusstsein, dass für 2020 dann kaum Belege für Einnahmen oder Ausgaben da sein werden.

 

Tag 62
Ich muss jetzt einmal gestehen, dass meine sozialen Kontakte während der Isolation nicht weniger geworden sind. Im Gegenteil, ich hab sogar ein, zwei besonders liebenswürdige dazu gewonnen. Die Beziehung zu meiner Youtube-Yoga-Lehrerin zum Beispiel ist zwar recht einseitig, aber dafür umso inniger. Eigentlich redet nur sie und ich höre ihr zu, aber das okay für mich. Auch die Kinder passen sich den Umständen an und suchen ihre Spielgefährt*innen auf anderen Wegen. So hat das kleinere Kind erst gemeint: “Siri, du bis meine beste Freundin überhaupt.”

 

Tag 63

Was ich sicher nicht vermissen werde, ist die tägliche Wertung unter uns Erwachsenen, welche Arbeit, Aufgabe oder Me-Time dringender und wichtiger ist. Und wenn man/frau dann zwei, drei Stunden für sich erobert hat, folgt der Kampf mit sich selbst, ob jetzt Arbeit, körperliche Ausgleichsbetätigung oder geistige Erholung dringender und wichtiger ist. In meiner Vorstellung wird das jetzt mit Schul- und Kindergartenstart wieder einfacher. Oder ist das nur eine vergebliche Hoffnung?

 

Tag 64

Noch 1 Tag ohne Fremdbetreuung. Fürchte mich schon vor den unbegrenzten Möglichkeiten.

 

Tag 65

Das ist der vorläufig letzte Eintrag in diesem Tagebuch der Isolation, der ständigen Familienaufstellung, der zwischenmenschlichen Belastungsproben und der innerfamiliären Erkenntnisse. In diesen 65 Tagen und Nächten haben wir viel über uns selbst gelernt, unser Repertoire an 70er-Disco-Tanzschritten aufgefrischt, uns gegenseitig das Malrechnen beigebracht und mit unseren bloßen Händen einen Zweitwohnsitz im Wienerwald errichtet. Auch existenzielle Fragen konnten wir zwischendurch klären (“Können Eltern Freund*innen sein?”). Und auch wenn wir uns nun alle danach sehnen, wieder in andere Gesichter blicken zu können, bleibt doch die Einsicht: Wir haben uns noch immer alle lieb. Und das ist, was schlussendlich zählt.

 

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Nachtrag 31.12.2020
Auf allgemeinen Wunsch hin ein letztes Coronatagebuch 2020:
Es war nicht alles schlecht in diesem Jahr. Um dem Negativfokus zu entkommen, haben wir uns heute bemüht, alle erfreulichen Ereignisse und Errungenschaften aus 2020 aufzulisten. Die Liste war nicht lang, aber immerhin, es gab auch positive Aspekte. Zum Beispiel haben wir eine Katze bekommen, die ist wirklich sehr lieb. Besonders gern haben wir sie, wenn sie gerade nicht Durchfall hat, oder sich Fellbüschel ausbeißt. Und die eine Tochter hat sich beim Skateboarden nur beide Arme und nicht auch noch die Beine gebrochen. Auch das ist positiv zu sehen. Neben dem globalen Ausnahmezustand hat das Jahr auch noch eine schwere persönliche Krise gebracht. Aber hey, jede Krise birgt die Chance auf Veränderung und Weiterentwicklung. Wieder was positives. Und ein kinderliteratisches Stipendium gab’s auch obendrauf. Nicht zu vergessen, wir haben uns im Wald ein Haus gebaut. Aus Stecken zwar, aber trotzdem. Heute haben wir zwar festgestellt, dass unser Chalet von Vandalen zerstört und seine Einzelteile in fremden Hütten verbaut worden sind, aber was soll’s. 2020 war für alle schwierig, auch für Holzhüttenbauerinnen. Und ich habe in diesem Jahr meine Lieben noch mehr lieben gelernt. Und das ist schließlich mehr wert, als alles andere. Ich bin mir sicher, die Zukunft ist gut. Alles Liebe und lucky Locki, Matthäus Bär

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